Der Baum in der Wüste

 

Das Rattern der Eisenräder auf den breiten mongolischen Eisenbahnschienen brachte einen beruhigenden Gleichklang mit sich. Die alten Waggons waren in mehreren Dutzendschaften zusammengereiht. Sass man wie ich im hintersten Teil des Zuges und schaute durchs offene Gangfenster nach vorne zur Spitze desselben, schien sich die ganze Komposition fast am Horizont zu verlieren. Zur Länge des Zuges, welcher nur wenige Tage die Woche diese Strecke unter seine Eisenräder nahm, und trotz vier starker russischer Dieselloks, die ganz schön ins Schnaufen zu kommen schienen sich nur äusserst langsam vorwärts bewegte, kam die unendliche Weite der Wüste Gobi hinzu.

Wer schon einmal eine Wüste gesehen hat, wer schon einmal seinen Blick in der nie enden wollenden Weite aus Sand und Gestein, in der Unendlichkeit des Schauens verloren hat, der weiss um die Kleinheit und eigentliche Unscheinbarkeit des Menschen. Und nur der der humanen Rasse innewohnende Grössenwahn führt ihn wieder zurück zu seiner Selbstgefälligkeit und bewahrt ihn vor der endgültigen Selbstverlorenheit im kosmischen Dasein. Das gleissende Gelbbraun des steinigen Sandes wich mit den herannahenden Abendstunden einem immer milder werdenden Rotton. Und ehe die Sonne nur annähernd den Horizont zum Abschied des Tages küsste, jagten sich die Wechsel der Farbtöne in einem unergründlichen Spiel der Vielfalt.

Mit dem immer intensiver werdenden Feuerrot der Sonne hoben sich die ersten Schatten aus der Tiefe der Sandwüste empor, als seien sie Gespielinnen der Kojoten, welche zum Ableben des Tageslichtes die ersten kühleren Abendwinde über den Dünen in sich aufsogen. Und da stand er. Kugelrund, mit kräftigen Armen. Schillernd grün in einem vollendeten Blätterkleid und kräftig, ein dünner Stamm von beindickem Umfang. Allein. Der Baum in der Wüste. Ein Bild wie von einem Lindenbaum auf einem Hügel im Schweizer Mittelland. Da war nur er, allein. Ganz allein.

Wie wohl kam dieser Baum hierher? Was hatte dem Samen den Impuls gegeben, hier seine innewohnende Bestimmung zur Entfaltung zu bringen? Wie wuchs er zu dieser Schönheit heran, ohne je ein Mitglied seiner Spezies als Vorbild und beratenden Freund zur Seite gehabt zu haben? Und wie hatte er es geschafft, nie aufzugeben - trotz widrigster klimatischer Umstände in unerträglicher Hitze und steintötender Kälte in den sibirischen Winternächten? Wir werden es nie erfahren. Doch hätte der Baum auf die vielen möglichen Bedenken anderer Bäume gehört, so stünde er wohl nicht hier. Und er wäre nicht das, was er heute ist - nämlich einzigartig.

Die Familie der Wüstenhasen, welche unter ihm in der Abendsonne tollte, sie werden seine Mühen nie verstehen. Aber ihnen hat er einen Lebensraum erschaffen. Und das schien diesen jungen Hoppelkerlchen wirklich Lebensfreude zu schenken…